Wunschzettel im Mai. Übung in frommer Unbescheidenheit

7.6.2019

Thorsten Latzel

Lieber Gott, es heißt, dass es einmal eine Zeit gab, in der das Wünschen noch half. Irgendwann. Damals. Als ich noch ein Kind war. Als die Menschen und ...

Lieber Gott,

es heißt, dass es einmal eine Zeit gab, in der das Wünschen noch half.
Irgendwann. Damals. Als ich noch ein Kind war.
Als die Menschen und die Welt noch Kinder waren.
In den Märchen, wenn die Fee kam oder die gute Hexe oder die drei Nüsse dalagen.
Am Anfang der Wundergeschichten, als Jesus die anderen immer wieder fragte:
„Was willst du, dass ich dir tue?“

Wir haben es irgendwann verlernt. Ich habe es verlernt – das Wünschen.
Aber wir brauchen es. Vielleicht dringender als früher.

Deshalb, Gott: Mein Wunschzettel. Ich verspreche Dir: kein Konsum-Scheiß.
Nicht von dem Zeug, was ich mir mit mehr oder weniger Geld auch selber kaufen könnte.
Sondern große, richtig große Wünsche.
Wie es für Dich, Gott, angemessen ist. In frommer Unbescheidenheit.
Dafür aber auch nur drei, wie es sich gehört.

1. Lieber Gott, ich wünsche mir, dass die Welt eine andere wird.

In den alten Bildern der Bibel gesprochen:
Dass Du alle Tränen abwischst, und dass kein Leid und kein Geschrei und kein Schmerz mehr sind.
Dass unsere Kinder nicht mehr lernen, Krieg zu führen.
Dass wir die Schwerter zu Pflugscharen und die Spieße zu Sicheln schmieden.
Dass ein jeder unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum in Frieden wohnt.
Dass niemand hungern muss oder ausgegrenzt wird – kein Fremdling, keine Witwe, keine Waise.
Dass Säuglinge an dem Loch der Otter spielen können und Wölfe friedlich bei den Lämmern wohnen.
Dass niemand mehr an einer dieser elenden Krankheiten sterben muss.
Dass unsere Alten noch Träume haben und unsere Kinder Zukunftshoffnung.
Ja, dass der Tod selber einmal nicht mehr sein wird.

Lieber Gott, das wünsche ich mir von Dir.

2. Lieber Gott, ich wünsche mir, dass ich ein anderer werde.

Ein neugeborener Mensch aus Deiner neuen Welt.
Dass ich sehen lerne, wirklich sehen: wie es anderen Menschen geht.
Und den Blick nicht vom Leid anderer abwende oder mich von falschem Schein täuschen lasse.
Dass ich sprechen lerne, wahrhaft sprechen: rechte Worte zur rechten Zeit.
Um Traurige zu trösten, Unrecht zu widersprechen, Wahrheit zu verteidigen, Liebe zu bekennen.
Dass ich laufen lerne, richtig laufen.
An die Orte, an denen ich gebraucht werde. Und um über Mauern zu springen.
Dass ich meinen Aussatz verliere, der mich daran hindert, auf andere zuzugehen, sie zu berühren, sie an mich heranzulassen.
Und dass ich auferstehe, jetzt auferstehe zu einem neuen Leben.
Einem Leben, das nicht mehr von der Angst bestimmt wird, zu kurz zu kommen.
Oder von der Sorge, dass die Zeit nicht reicht, dass es nicht genug gibt, dass alles irgendwie vergeblich ist.

Lieber Gott, das wünsche ich mir von Dir.

3. Und lieber Gott, ich wünsche mir, dass Du anders wirst.

Dass Du da bist, wirklich für uns da bist.
Dass Du hier und jetzt wahr wirst, anders als nur in Märchen und alten Geschichten.
Dass wir Dich erfahren können.
Dass Du tust, was von Dir gesagt wird. Was Du selbst verheißen hast. Was die Bibel von Dir erzählt.
Und dass Du mein Wünschen hörst. Und das stumme Wünschen all der vielen anderen.
Von Menschen und Tieren. Von Deiner ganzen Schöpfung.
Wir bekommen es mit uns selbst, den anderen und der Welt allzu oft nicht hin.
Deswegen wünsche ich mir, dass das mit dem Wünschen funktioniert.

Lieber Gott, das wünsche ich mir von Dir. Von ganzem Herzen. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.

Theologische Impulse 22, von Dr. Thorsten Latzel