Zum Beispiel Regenschirme. Von der Kunst, sich zu verlieren und zu finden

12.4.2019

Thorsten Latzel

Zum Beispiel Regenschirme Meine Geldbörse, den Haustürschlüssel, die Jugend, meine Gesundheit, die große Liebe, die Lust am Sex, den linken Handschuh, Regenschirme, Schals. Meine Arbeitsstelle, das Vertrauen in meine ...

Zum Beispiel Regenschirme

Meine Geldbörse, den Haustürschlüssel, die Jugend,
meine Gesundheit, die große Liebe, die Lust am Sex,
den linken Handschuh, Regenschirme, Schals.

Meine Arbeitsstelle, das Vertrauen in meine Mitmenschen, den Verstand,
meine Unschuld, die Eltern, den Partner,
den Glauben an Gott, die Gesundheit, den rechten Handschuh,
Mützen, viele Mützen, und Regenschirme.

Den Sinn im Leben, mich selbst,
meinen Kalender, mein Handy, unseren Kater,
meine ersten Zähne, meine zweiten Zähne, die innere Ruhe.
Und Regenschirme, immer wieder Regenschirme.

Was waren die Verluste Ihres Lebens?
Die Bibel ist eine Verlust- und Finde-Geschichte: eine Geschichte vom großen Verlieren und manchmal Wiederfinden. Die Bibel beginnt ganz am Anfang mit dem Verlust schlechthin: dem Verlust des Paradieses. Wir haben das Leben verloren – so, wie es eigentlich gedacht ist: den Einklang mit der Schöpfung, den Tieren und Pflanzen, uns selbst. So sehr wir uns auch mühen, gut und schön und richtig zu leben. Es bleibt eine Lücke, eine Leere, ein Leck. Ein Riss in allen Dingen.

Das Alte Testament als Ganzes ist entstanden aus dem zweiten großen Verlust: dem Verlust des Heiligen Landes und des Heiligen Tempels. Es stammt aus der Zeit nach dem Exil. Israel lebt in der Fremde. Oder in einer Heimat, die es schon einmal verloren hat und die den Verlust auf immer in sich trägt.

Auch das Neue Testament ist aus einem Verlust entstanden. Den Tod von Jesus am Kreuz. Die sichtbare, fühlbare Gegenwart Gottes unter uns. Dieser Mensch ist nicht mehr da – greifbar, sichtbar, anfassbar. Alle Jesus-Geschichten stammen aus der Zeit nach seinem Tod, ja zumeist sogar aus der Zeit als selbst die meisten Augenzeugen schon gestorben sind. Paradies, Heiliges Land, Jesus – der große Verlust.

Natürlich ist die Bibel auch eine Geschichte des Findens und Wiederfindens. Von Ostern, Auferstehung, Heimkehr – mit der großen Vision eines neuen Himmels und einer neuen Erde am Ende. Doch die Erfahrung des Verlustes bleibt. Sie ist tief mit unserem Leben verbunden, seiner Endlichkeit, seiner Vergänglichkeit. So viele Regenschirme wir auch immer wieder neu kaufen, am Ende werden sie fehlen und uns vor dem großen Verlust nicht schützen.

Wenn die Bibel ein großes Verlust- und Findebuch ist, so ist das 15. Kapitel des Lukasevangeliums so etwas wie die Bibel in der Bibel. Der Karamellkern des Evangeliums. Es handelt von den drei großen Geschichten vom Verlorenen. Das verlorene Schaf, der verlorene Groschen, der verlorene Sohn. In allen drei Geschichten geht es ums Verlieren, ums Finden und ums Sich-Freuen. Das klingt dann in den beiden ersten Geschichten so:

„Es nahten sich Jesus aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: „Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.“ Jesus sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: „Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet? Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.“

Die Frage ist, welche Rolle wir in der Geschichte des Verlierens und Findens spielen: welche Rolle unsere Verlust-Erfahrungen spielen und unsere Art, wie wir als Christen im 21. Jahrhundert leben. Drei theologische Variationen.

Variante 1: Wir sind die 99 Schafe

Wir sind die Guten. Auch wenn wir das so natürlich nie sagen würden. Aber in der Erzählung ist das ja schon so angelegt. Wir sind die Pharisäer und Sadduzäer, die kirchliche Hochverbundenen, die Frommen, die Sonntagmorgen-Gemeinde, die Nachbarn der Frau, der ältere Bruder, die 99 Schafe im Hause des Herrn. Passt ja auch irgendwie zu unserem Evangelisch sein: 99 Schafe – 95 Thesen. Haut nicht ganz genau hin. Hat aber beides was wohltuend Ermüdendes, wenn man sie durchgeht. Und uns gilt die Aufforderung, am Glück der anderen teilzuhaben.

Komm, freut euch mit: wenn eure Nachbarin ihr Glück findet, wenn auch das letzte dumme Schaf es endlich kapiert, wenn der verkorkste Bruder wieder nach Hause kommt.

Freu dich am Finde-Glück der Anderen! Eine wichtige Aufforderung: Mein Leben wird nicht schlechter, wenn es dem anderen besser ergeht. Auch wenn die Missgunst, der Neid, der ewige große Vergleicher in meinen Kopf das meint: „Wieso bekommt der, was ich auch habe?“ Sie gilt umso mehr, wenn wir zu den 99, der Mehrheitsgesellschaft gehören. Komm, freu dich mit am Glück der anderen – auch wenn sie nicht so leben, lieben, lehren, wie wir es tun. Menschen mit einem großen Herzen sind eine Gabe Gottes. Und öfters am Tag mal mit den Engeln im Himmeln zu schmunzeln, ist keine schlechte Idee. Da macht man meist erstmal nichts falsch.

Aber: so schön die erste Variation ist, sie bricht doch an einer Stelle. Da heißt es von den Gerechten, dass sie „der Buße nicht bedürfen.“ Das knackt natürlich in unseren evangelisch geschulten Schafs-Ohren. Oder um mit der ersten der 95 Thesen Martin Luthers zu sprechen: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht „Tut Buße“, hat er gewollt, dass das ganze Leben eine Buße sei.“

Daher Variante 2: Wir sind das verlorene Schaf

Das deckt sich mit den Verlust-Erfahrungen im eigenen Leben. Wenn ich in die Irre gehe, den Sinn verliere, mir das Leben entgleitet: Das sind Erfahrungen, die zumindest vielen nicht fremd sein dürften. Mit jedem Verlust verliere ich immer auch ein Stück von mir selbst. Und es ist ja interessant, wie bei den drei Geschichten vom Verlorenen der Anteil der Verlorenen stetig zunimmt: erst eins von 100 Schafen, dann einer von zehn Groschen, schließlich einer von zwei Brüdern. Bis am Ende der drei Geschichten der ältere, gerechte Bruder alleine verloren draußen steht.

Wir sind verlorene Schafe, 100 Stück: 99 im Stall – eins draußen. In die Irre gehen wir alle. Und es ändert meinen Blick auf die Blödheit anderer Hammel, wenn ich um mich meine eigene himmelschreiende Schafsköpfigkeit weiß. Wenn ich weiß, wie oft ich mich verrenne, jeden Tag aufs Neue. Nur die Verlorenheit ist eine andere: im Stall oder außerhalb. Das macht einen großen Unterschied. Weil die Umkehr im Stall oft schwerer fällt. Draußen bleibt einem nichts Anderes übrig. Aber was macht man, wenn man es doch eigentlich immer gut gemeint hat. Und eigentlich im Stall auch irgendwie alles in Ordnung ist. Wenn man aber aus der eigenen Wolle, der eigenen Hammeligkeit trotzdem nicht rauskommt? Das Problem der Umkehr der Gerechten.

Womit wir bei Variante 3 sind: Wir sind gefundene Finder

Ich glaube, die eigentliche Pointe der Geschichten liegt daran, dass wir am Ende auf die Seite der Sucher wechseln. Wie der Hirte, der seine Herde, seinen ganzen Besitz, aufgibt, um das eine Schafe zu finden. Er geht selbst in die Irre, um das Verirrte zu finden. Wie die Frau, die ihr Haus, ihr Leben, sich selbst auf den Kopf stellt, um den einen Groschen unterm Bett zu finden. Wie der Vater, der in seinem Sohn sich selbst verloren hat. Und der deshalb seine patriarchale Contenance aufgibt und dem Sohn entgegenläuft, als der endlich wieder nach Hause kommt.

Gott hat sich verloren. Weil wir verloren gegangen sind. Deshalb, so glauben wir, musste er Mensch werden. Deshalb musste er selbst in die Irre gehen, selbst ein Verlorener werden. Um uns zu finden. Und damit wir Gott – als gefundene Finder – beim Suchen helfen: „Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen“. Das ist auch unser Auftrag: Den verlorenen Anderen zu suchen. Mit dem gefundenen Anderen zu essen. Sich gemeinsam mit den Engeln am Glück der Anderen zu freuen. Und so einander zum Christus werden.

Und am Ende der Zeiten, wenn alle unsere Finde-Geschichten zu Ende sind, werden wir alle unter einem großen, leuchtenden Regenbogen stehen. Und dann, dann wird mir vielleicht ein lächelnder Engel einmal erzählen, wo all die anderen Regenschirme abgeblieben sind.

Theologische Impulse 14, von Dr. Thorsten Latzel