Zur Ruhe kommen. Die politische Brisanz des Innehaltens

20.10.2019

Thorsten Latzel

Vielleicht ist Ruhe in unseren Tagen ein anderes Wort für Gott geworden. Natürlich ist die Ruhe nicht selber Gott. Aber sie ist ein Sehnsuchts-Synonym, ein ...

Vielleicht ist Ruhe in unseren Tagen ein anderes Wort für Gott geworden. Natürlich ist die Ruhe nicht selber Gott. Aber sie ist ein Sehnsuchts-Synonym, ein religiöser Platzhalter, eine geistliche Metapher: Wenn Menschen der Gottes-Begriff abhandengekommen ist, wenn Gott wie vieles andere irgendwie durch das Gitter des tagtäglichen Hamsterrades rutscht, wenn es „hinter tausend Stäben keine Welt“ (Rilke) mehr gibt, dann werden Ruhe, Stille, Auszeit zum Ort, an dem ich zumindest erfahren kann, was mir fehlt.

Ruhe: Nicht die erschöpfte Ermattungsmüdigkeit auf dem Sofa – als Unterbrechung des Alltagstrotts, bis der nächste Morgen graut. Nicht der funktionalisierte Powernap, durch den man sogar noch während seiner Schlafenszeit versucht, „sich selbst zu optimieren“, eine funktionalistische Fortsetzung meines „Langzeitprojektes Leben“ mit anderen Mitteln. Nicht die finale Friedhofsruhe als großes „Rien ne va plus“ am Ende meiner Tage. Sondern Ruhe als eine Tiefen-Zeit, eine Zeit äußerer und innerer Einkehr, eine Zeit des Loslassens, der Neuausrichtung, des Heraustretens. Ruhe als eine Zeit der Freiheit, um anders zu werden.

Zur Ruhe kommen: Das kann zum Inbegriff eines religiösen Prozesses werden. Der Begegnung mit Gott im Sinne eines Sabbats. Eine Gottesruhe. „Die kürzeste Definition von Religion ist Unterbrechung“ (Johann Baptist Metz). Wobei man eigentlich nicht zur Ruhe kommt, sondern die Ruhe kommt zu einem. Sie widerfährt einem, begegnet einem als Stille. Ruhe, Stille als Widerfahrnis, als Begegnung und zugleich als höchste Form der Präsenz. Ich tue nichts und bin gerade dadurch intensiv gegenwärtig. Bei mir, indem ich mich Gott öffne. Eine Fokussierung, eine Konzentration – gerade durch eine Begegnung außerhalb.

Von Gott selbst heißt es ja am Ende der Schöpfungsgeschichte, dass er ruhte: „So wurden vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer. Und so vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte.“ (1. Mose 2, 1-3)

Nun kann man sich ja fragen, warum Gott eigentlich am siebten Tag ruhte. Braucht der Schöpfer von Himmel und Erde tatsächlich Urlaub? Gewiss, die Schöpfung der Welt ist ein großes Projekt. Aber eine re-kreative „Auszeit“ des Höchsten, und das schon nach 6 Tagen? In der biblischen Erzählung wird die Ruhe Gottes als Krönung der Schöpfung beschrieben. Sie ist, so verstehe ich sie, eine Form der freiwilligen Selbstzurücknahme Gottes. Gott nimmt Anteil an seiner begrenzten Schöpfung. Mit der Ruhe verhält es sich bei Gott und uns Menschen gleichsam überkreuz: Für Gott ist die Ruhe das Anteilnehmen an der Endlichkeit. Für uns Menschen das Anteilerhalten an der Unendlichkeit, der Ewigkeit Gottes. Die Ruhe Gottes am Ende ist dabei zugleich das Gegenstück zur wüsten Leere, dem Tohuwabohu am Anfang der Schöpfung. Die stille Zeit am Ende und der wüste Ort am Anfang gehören als Gegenstücke zusammen.

Das Ruhen Gottes am Ende der Schöpfung ist, wie wir vom jüdischen Glauben lernen können, einer der Schlüsselmomente biblischer Überlieferung überhaupt. Die Verschränkung von Zeit und Ewigkeit, von Gott und Mensch. Was so theologisch-besinnlich klingt, hat eine hohe gesellschaftliche Relevanz. Drei Blitzlichter zur politischen Brisanz der Gottesruhe:

1. Ein anderes, resonantes Weltverhältnis: Gegenwärtig denken viele Menschen zu Recht über ein anderes Verhältnis zur Umwelt, zur nicht-menschlichen Schöpfung nach: Was können wir tun, damit auch künftige Generationen dauerhaft und lebenswert auf diesem Planeten existieren können? Ich glaube, dass es für wirklich tiefgreifende Veränderungen nicht mit Aktionsprogrammen getan ist, sondern dass es ein anderes Verständnis von uns selbst braucht, woher und wohin wir sind, worin wir ruhen, worum es in unserem Leben geht. Das schließt ein anderes Verhältnis von Tun und Lassen ein, von vita activa und passiva. Eine Form aktiver Passivität, wie sie exemplarisch im Gebet erfahren wird, und die sich mit politischer Leidenschaft verbindet. „Durch stille sein und hoffen würdet ihr stark sein, aber ihr wollt nicht.“ (Jes. 30,15)

2. Die soziale Dimension des Ruhens: In der Bibel finden sich ja zwei, leicht variierende Fassungen der Zehn Gebote, mit einer markant unterschiedlichen Begründung des Sabbats. Das eine Mal wird, wie oben, zu seiner Begründung auf Gottes Ruhe am Ende der Schöpfung verwiesen (2. Mose 20, 8-11); das andere Mal auf die Erfahrung, wie Gott Israel aus der Knechtschaft in Ägypten befreit hat (5. Mose 5, 12-15). Die gemeinsame Pointe bei beiden ist, dass Ruhe kein religiös-meditatives Privatvergnügen ist. Sie gilt vielmehr radikal allen: generationell den Erwachsenen wie den Kindern, sozial den Herrschenden ebenso wie den Mägden und Knechten, religiös den Angehörigen des Gottesvolkes ebenso wie den Fremdlingen, ökologisch den Menschen ebenso wie den Tieren (und Pflanzen). Gerade auch für die Fähigkeit zur Ruhe gilt: „Das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden.“ (Röm 8,19)

3. Große, lebensleitende Hoffnung: Im Judentum gibt es die Vorstellung, dass, wenn Israel den Sabbat zweimal nacheinander halten würde, die Erlösung da wäre. Ich glaube, wir brauchen gerade auch für das eigene politische Handeln solche großen, lebensleitenden Hoffnungen wie diese. In ihr drückt sich die existentielle Unmöglichkeit aus, dass wir das Hamsterrad wirklich anhalten. Wir können nicht „nicht laufen“. Der Sabbat wird wohl immer wieder gebrochen werden. Zugleich kommt darin aber eine lebensleitende Hoffnung jenseits unserer Möglichkeiten zum Ausdruck. Einmal wird es sie geben, die Ruhe und Erlösung für diese Welt. Mit Augustin formuliert: „Unruhig ist unser Herz, bis dass es Ruhe findet in dir.“ (Confessiones 1,1) Diese Perspektive begründet recht verstanden keinen politischen Quietismus, sondern ermöglicht als unverwüstliche Zuversicht allererst das Engagement in den Mühen des demokratischen Alltags. „Es ist noch eine Ruhe vorhanden in Gott.“ (Hebr. 4,4)

Ruhe richtig

Du kommst nicht zur Ruhe,
wenn Du Dich nur selbst optimierst,
die freie Zeit mit Amüsement erschlägst,
oder Dich vor dem Unrecht der Welt
in Keller, Garten und Garage
verkriechst.

Die Ruhe kommt zu Dir,
wenn Du für Dich und andere ruhst,
die Freiheit Deine Liebe stärkt,
und sich eine wundersame Zeit auftut,
in der Welt-Schmerzen heilen können.

Dann kann es geschehen,
dass Gott Dir begegnet
in einer „Stimme verschwebenden Schweigens“* . (TL)

(* Vgl. 1. Kön 19, 12 in der Übersetzung von Martin Buber/Franz Rosenzweig, Die Schrift, Band 2: Bücher der Geschichte.)

Theologische Impulse 36, von Dr. Thorsten Latzel