Armut, Urban Leaders & alltäglicher Gottesdienst

22.8.2023

Thorsten Latzel

Gemeinde in Birmingham Impulse von einem Besuch der United Reformed Church (URC) London, Birmingham, Cambridge – drei Städte mit grundverschiedenen Situationen und ebenso verschiedener kirchlicher Arbeit. Bei einer ökumenischen ...

Impulse von einem Besuch der United Reformed Church (URC)

London, Birmingham, Cambridge – drei Städte mit grundverschiedenen Situationen und ebenso verschiedener kirchlicher Arbeit. Bei einer ökumenischen Begegnung mit der United Reformed Church haben wir innovative Gemeinden vor Ort besucht. Vier Impulse, die wir bzw. die ich von dort mitgenommen habe:

1. Alltäglicher Gottesdienst: „The primary action of the church in the world is the action of its members in their daily work.“ (Leslie Newbigin) Mit diesem Zitat beschreibt Reverend Eddi Boon von der Thames North Synod seine Arbeit als „discipleship enabler“. Die Hauptamtlichen müssten gar nicht so viel selber machen, sie seien oft viel zu geschäftig. Es komme mehr darauf an, Christinnen und Christen in ihrem alltäglichen Gottesdienst zu stärken. Sie zu unterstützen, ihre eigenen Gaben zum Blühen zu bringen („to help flourish“). Ein faszinierender Gedanke: Jeden Tag finden Millionen von Gottesdiensten in unserer Kirche statt, im Leben jedes einzelnen Gläubigen. Whole life discipleship. Das knüpft an das an, was Paulus als „lebendiges Opfer“ und „vernünftigen Gottesdienst“ beschreibt (Röm 12,1). Das nimmt von der Bedeutung der gemeinschaftlichen Feier nichts weg, weitet aber den Blick auf die größere Wirklichkeit von Kirche und lässt das eigene Leben in einem anderen Licht erkennen.

In der anglikanischen Gemeinde St Martin-in-the-Fields erzählt uns die Vikarin Angela von der dortigen Nazareth Community. Sie pflegen solch eine Spiritualität des Alltags. Leitend sind dabei die sieben „S“: silence, scripture, sacraments, sabbath, service, staying with, sharing. Impulse, wie sie auch vom London Institute of Comtemporary Christianity (LICC) vermittelt werden. Woran erkennen andere eigentliche mein Christsein im Alltag? Und worin lebt mein Glaube? Und welche Gestalt haben Stille, Schrift, Taufe und Abendmahl, Ruhe in Gott, der Dienst für andere, gelebte Gemeinschaft, das Teilen in meinem Leben?

2. Urban leadership: Der Gemeindebesuch an jedem Orten beginnt jeweils mit einem langen Spaziergang. Die Kolleg/-innen nehmen uns hinein in die Lebenswelten ihrer Gemeinden. Ein anderer Blick auf die Stadt. Am Anfang stehen Laufen, Sehen, Zuhören. Man sieht nur, was man kennt. „Theology by walking around“. Das ist kennzeichnend für die missionarische und sozialraum-orientierte Arbeit der Gemeinden. Eine flächendeckende volkskirchliche Raum-Zuordnung gibt es nicht. Zur Gemeinde gehören die Menschen, die sich ihr zugehörig erklären (zum Teil aus unterschiedlichen Konfessionen) – und diejenigen, die dort leben. Theologisch leitend ist dabei die Vorstellung des Reiches Gottes als einer Wirklichkeit, die in dem Leben aller Menschen dieser Stadt verborgen gegenwärtig ist. „Und der Herr sprach: … und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere?“ (Jona 4,11)

Geistliches, diakonisches und missionarisches Engagement gehören für die Gemeinden dabei immer zusammen. Beim Sonntagsgottesdienst in der International American Church im Londoner Stadtteil Camden sitzen Obdachlose selbstverständlich neben Universitätsdozenten und Touristen, welche Jennifer Mills-Knutsen als senior minister gerade noch auf dem Weg zum Gottesdienst eingeladen hat. Ihr Kollege Ash Barker unterrichtet in Birmingham Mitarbeitende in „urban leadership“: Was heißt es, als Christ/-innen „der Stadt Bestes“ zu suchen – und so zur Erfahrbarkeit des Reiches Gottes am eigenen Lebensort beizutragen?

3. Armut: Was mir in Birmingham als Erstes auffällt, sind Zähne. Fehlende Zähne. Bei vielen Menschen, die in der Lodge Road Community Church aus- und eingehen. Und ähnlich wie die Gebisse sehen die Backstein-Reihenhäuser in dem Viertel aus. Herunterhängende Regenrinnen, verwilderte Vorgärten, leere Fenster, Möbel auf der Straße. Wer hier einmal wohnt, kommt selten wieder heraus. Die örtliche Highschool führt fast niemanden zur Universität.

Armut ist ein großes Thema nach Brexit und Inflation. Das soziale System und der National Health Service funktionieren vielfach nicht mehr. Auch in London und Cambridge taucht die Armutsfrage auf, aber mit anderen Gesichtern. In London schlafen Berufstätige z. T. in Autos oder am Flughafen. Ihre persönlichen safe spaces, wobei safe hier relativ ist. Sie können sich schlicht die horrenden Mieten nicht leisten. Und es gibt allseits bekannt moderne Sklaverei. Viele Migrant/-innen kommen nach London, tauchen unter, haben Schulden bei Schleppern, arbeiten abhängig in rechtsfreien Räumen. In der Universitätsstadt Cambridge mit ihren Colleges, Büros internationaler Tech-Unternehmen, Scharen von Touristen ist die Armut verborgener. Helen, eine kirchlich engagierte frühere Sozialarbeiterin, zeigt sie uns: Im vierten der schicken, neuen Wohnblöcke nahe dem Bahnhof befinden sich – wie vorgeschrieben – Sozialwohnungen. Hier leben Alleinerziehende mit ihren Kindern. Die Idee der Integration bleibt eine Idee. Die Gemeinde mit Pionier-Minister Alex Clare-Young begegnet dem u. a. mit aufsuchender sozialer Arbeit und mit einen solidarity hub für Menschen mit verschiedensten Diskriminierungserfahrungen.

In der Birminghamer Gemeinde haben das Pfarrehepaar Angela und Ash Barker eine „asset based community“ (kurz: abc) aufgebaut. Eine Pionier-Gemeinde, die sich von den Ärmsten her aufbaut – und dabei einen gabenorientierten Ansatz verfolgt: nicht für, sondern mit den Menschen. Geleitet von der Frage: „Was kannst du und willst du beitragen?“ Die umgebaute Kirche ist eine Mischung aus Sozialbüro, Essensküche, Musikstudio, Fahrradwerkstatt, im hinteren Teil ist eine Kapelle. Vor ein paar Wochen war die Kirche leergeräumt für Jugendliche zum Indoor-Skaten. Angie erzählt uns von ihrer Arbeit, nebenher begrüßt, berät sie alle, die an dem Tag reinschauen: „Freedom or fund. You can’t have both. Many of us started by doing good and ended by well being.“ (Freiheit oder Finanzen. Du kannst nicht beides haben. Viele von uns begannen damit, Gutes zu tun, und endeten im Wohlstand.) Sie liebt klare, starke Sprache. Eines ihrer Bücher trägt den Titel: „Missionary – Not only a position“. Klare Ansage braucht es bei den Gottesdiensten der Gemeinde. Die einen gehen zwischendurch zum Rauchen, ein anderer erzählt am Anfang immer Witze, das ist Teil der Liturgie.

Auch wenn die Situation in Deutschland in manchem anders ist: Kinder-, Familien-, Alters-Armut, abgehängte Gegenden, soziale Spaltung gehören zu den zentralen Herausforderungen auch bei uns. Unsere Gemeinden sind vielfältig sozial engagiert, wir haben eine starke Diakonie. Zugleich sind wir als Kirche insgesamt ziemlich gutbürgerlich. Der doppelte Leitsatz von Mutter Teresa geht mir seitdem weiter durch den Kopf: „Do you know your people? Do you love your people?“ Vor 175 Jahren haben Christ/-innen neue Wege entwickelt, um der sozialen Frage im Zuge der Industrialisierung zu begegnen (vgl. #ausLiebe). Wir sind heute angesichts der sozialen Verwerfungen unserer Zeit neu gefragt.

4. Protestantisches Profil: Die Gemeinden der United Reformed Church (URC) arbeiten – gerade bei Fragen öffentlicher Verantwortung – selbstverständlich mit Gemeinden anderer Konfessionen zusammen. Das wäre angesichts der oft sehr kleinen 1200 local communities mit insgesamt nur 36.000 eingetragen Mitgliedern auch gar nicht anders möglich. Bis hin zu einzelnen gemeinsamen ökumenischen Gemeinden von Methodisten, Baptisten, Anglikanern. In ökumenischer Gemeinschaft den Reichtum konfessioneller Traditionen zu pflegen, ist dabei eine bleibende Aufgabe.

Die Finanzierung der kirchlichen Arbeit erfolgt oft aus Stiftungen, Rücklagen, Liegenschaften früherer Zeiten. Wie die Gemeinschaft vor Ort und die Gesamtkirche als notwendiger institutioneller Rahmen sich gegenseitig stärken, taucht als Frage in den Gesprächen immer wieder auf. Ebenso die Frage: Warum bin ich protestantisch, Mitglied dieser evangelischen Kirche? John Bradbury, general secretary der URC, hat dazu Mitglieder in einer qualitativen Studie befragen lassen. Zu den Antworten der Mitglieder gehören dabei weniger dogmatische als erfahrungsbezogene Aussagen. Etwa:

1. „to have an own voice“ – Bei uns hat jede/r etwas zu sagen (in einem weiten Sinne „demokratisch“).

2. „a local identity“ – Wir hier jetzt bekennen dies.

3. „being inclusive“ – Offenheit und Diversität als gelebte Feindesliebe – „Wherever you are on your life-journey, you’re welcome.“

4. „social engagement“ – das helfende Handeln für andere.

Viele innovative Projekte sind selbst von Laien initiiert, leben aber zugleich von der Verbindung mit traditionellen Gestalten von Gemeinde als geistlicher Beheimatung. Als wenigstens ebenso wichtig wie finanzielle Unterstützung wird dabei die geistliche genannt: wirklich gesehen, verstanden und als Ausdruck des gemeinsamen Glaubens geschätzt zu werden.

Kirche, so ein prägnanter Satz von John, ereigne sich nicht in der Sakristei. Sie lebt letztlich von einer wechselseitigen Bewegung: des sich selbst Entäußerns als „Kirche für andere“ nach außen und der gemeinsamen geistlichen Einkehr bei Gott nach innen. Gerade im mutigen Umgang mit der Herausforderungen von Gesellschaft und Kirche und der freien, offenen Suche nach kirchlichen Formen für unsere Zeit drückt sich eine urprotestantische Glaubenshaltung aus. Davon haben wir bei unseren Geschwistern der URC viel lernen können.


Theologische Impulse (132) von Präses Dr. Thorsten Latzel

Weitere Texte: www.glauben-denken.de

Als Bücher: www.bod.de

Beiträge zu “Armut, Urban Leaders & alltäglicher Gottesdienst

  1. Jona 4,11:
    Als der Herr doch gnädig wurde mit Ninive, das anfing zu bereuen,
    da wurde Jona, der endlich den Mut gefunden hatte, den Auftrag des Herrn zu erfüllen,
    ergriffen von Unmut, warum Gnade vor Recht erging.
    Als Jona selbst unverdient in den Genuss des schattenspendenden Rizinus kam, was ihn sehr freute,
    wurde er ergriffen von Unmut, als ihm der Schattenspender unerwartet wieder verdorrte.

    Mir wird diese Geschichte über Gott über viele Jahre schrittweise wichtig,
    weil sie von meinem Neid, Besserwisserei und der Option zu Veränderung handelt.

    Was ist nun daran der protestantische Aspekt ?
    Vielleicht ist es die Einladung zur Identifikation mit Jona ?-)

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