„In Einsamkeit mein Sprachgesell“. Eine kleine geistliche Gebrauchsanleitung in der Corona-Zeit

21.3.2020

Thorsten Latzel

Es gibt Zeiten im Leben, da fehlen einem die Worte. Vor allem, wenn man in Not gerät, Ängste oder Sorgen hat – und einfach nicht ...

Es gibt Zeiten im Leben, da fehlen einem die Worte. Vor allem, wenn man in Not gerät, Ängste oder Sorgen hat – und einfach nicht weiß, wohin damit. Das geht heute manchem so angesichts des Coronavirus SARS-CoV-2: Man kann es nicht sehen und doch ist es da, hochansteckend und stellt das ganze gewohnte Leben auf den Kopf – bis hin zu ganz konkreten gesundheitlichen, ökonomischen oder seelischen Problem. In solchen Zeiten ist es gut, Worte zu haben, die einem helfen, das auszudrücken, was einen bewegt. Und es ist gut, wenn man jemanden hat, dem man diese innersten Gefühle sagen kann. Jemanden, der diese Gefühle aushalten kann, der sie versteht und der auch helfen kann. Einem nahestehenden Menschen und besonders auch Gott. „In Einsamkeit mein Sprachgesell“ (Paul Gerhardt). Kurz: Es hilft, miteinander zu reden und zu beten.

Gerade das Beten fällt Menschen aber oft nicht leicht. Man hat es lange nicht mehr gemacht, ist unsicher, ob es „etwas bringt“ oder wie man es „richtig macht“. Hier können die Psalmen eine große Hilfe sein. Es sind alte Texte des jüdischen Volkes, die Menschen seit 3000 Jahren durch Erfahrungen von Angst, Not und Zweifel begleitet haben. Lieder, Gebete, Gedichte, die genau zu diesem Zweck aufgeschrieben und von Generation zu Generation weitergegeben wurden: damit Menschen nicht allein oder sprachlos bleiben. „Wenn es ans Eingemachte geht, braucht es Eingemachtes.“ Genau das sind die Psalmen: geistlich Eingemachtes. Dichte, poetische Texte voller Erfahrung von Höhen und Tiefen, voller Anfechtung und Hoffnung – mit der Kraft, die eigene „Seele“ zu trösten. Wer das Beten verlernt hat, hier kann er oder sie es wieder lernen.

Im Folgenden möchte ich versuchen, ein paar Empfehlungen zum Gebrauch der Psalmen zu geben.

1. Psalmen sollte man sprechen – laut, wiederholt und gerade auch dann, wenn man zweifelt.

Im Psalmenbuch der Bibel finden sich 150 Psalmen, die zu höchst unterschiedlichen Zwecken verfasst wurden. Für Augenblicke der Klage wie des Lobs, für Trauer wie für Jubel, für den gemeinsamen Gesang im Gottesdienst wie für das intime „Kummergebet in der Kammer“. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie ihre Kraft besonders dann entfalten, wenn man sie spricht: laut, wiederholt – und auch dann, wenn man nicht weiß, ob dies schon ein „richtiges“ Gebet ist oder „nur“ ein gelesener Text. Beten lernt man, indem man es einfach tut. Allen Zweifeln zum Trotz. Und interessanterweise gehört der Zweifel daran, ob Gott hört und das Beten etwas bewirkt, wesentlich zum Gebet der Glaubenden dazu. Immer wieder kommt die klagende Frage an Gott, warum er sich verbirgt und nicht hört. Etwa am Anfang von Psalm 13: „Herr, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich täglich in meinem Herzen ängstigen?“ Die geistliche Pointe ist, es dennoch zu tun: zu beten, auch wenn man nicht weiß, ob es wirkt. Es gilt, Gott mehr zu vertrauen als den eigenen Zweifeln. In der Klage werden die eigenen Ängste zur Frage an Gott. Und damit ist bereits ein Spalt in der Mauer der Sprachlosigkeit.

2. Psalmen sind lebensgefüllte „Tiefentexte“ – voller Brüche, Sprünge und Risse.

Die Psalmen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie die Lebenserfahrungen von Menschen in ihrer tiefen, vielschichtigen Ambivalenz spiegeln. Wie gute Poesie. Sie sind deshalb voller existenzieller Spannungen und „lebensnotwendiger Widersprüche“. Ein eindrückliches Beispiel dafür gibt etwa Psalm 22, mit dessen Worten Jesus (nach Markus und Matthäus) am Kreuz stirbt. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ So beginnt der Psalm, und der Betende klagt Gott dann in starken Bildern sein ganzes Leid: „Gewaltige Stiere haben mich umgeben“, „ich bin ausgeschüttet wie Wasser“, „meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe“. Das geht so bis in die Mitte von Vers 22: „Hilf mir aus dem Rachen des Löwen und vor den Hörnern der wilden Stiere“. Und dann, auf einmal, ohne weitere Erklärung, schlägt die Klage im gleichen Vers in Lob um: „Du hast mich erhört.“ Und der Betende hört gar nicht mehr auf, Gott zu rühmen. Die Ausleger haben dies höchst unterschiedlich zu erklären versucht: mit dem zwischenzeitlich erfolgten Zuspruch eines Priesters, einer persönlichen Lebenserfahrung, einer inneren Erhörungsgewissheit. Die Frage bleibt offen.

Das Eigentliche tut sich zwischen den Zeilen. Es geht – in der Sprache des Bibliologs – um das „weiße Feuer“ des Zwischenraums zwischen den gedruckten Buchstaben (als „schwarzes Feuer“). In dem Ungesagten, der Lücke, dem nicht geklärten Sprung von der Klage zum Lob ereignet sich das Geheimnis des Gebets: dass Gott hört, dass meine Seele Trost erfährt und dass die Welt, das Leben, ich selbst irgendwie anders werden.

3. Psalmen weiten den Blick durch einen Rhythmus sich verändernder Wiederholungen.

Auf Menschen heute wirken die Psalmen oftmals fremd, weil – neben manchen altertümlichen Worten und Bildern – sich der Inhalt auf merkwürdige Art wiederholt. Was im einen Satz gesagt wird, taucht im nächsten so ähnlich, aber doch verändert wieder auf. Manchmal wirkt es fast wie eine Doppelung, dann wieder wie eine Fortführung oder ein Gegensatz. Eine wellenförmige Bewegung des eigenen Sprechens und Denkens und Betens. Ein schönes Beispiel dafür ist der wohl bekannteste Psalm 23. Die große Trostaussage, dass Gott sich wie ein guter Hirte um mich kümmert, meine Sorgen gleichsam zu seiner Sache macht, wird in immer neuen Anläufen durchgespielt: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.“ In der Auslegung spricht man hier von einer Art „Gedankenreim“, dem sogenannten „Parallelismus membrorum“, also einer Parallelität bzw. Entsprechung der Versteile. Dabei sind die kleinen Variationen wichtig. Weil sie meinen ängstlichen „Tunnelblick“, fokussiert auf die eigenen Sorgen, oft unmerklich verändern und so das eigene, erstarrte Denken wieder in Fluss bringen. Fast so wie eine Physiotherapie für die Seele. Ich glaube, die Psalmen sind so etwas wie Gottes Wiegenlieder für uns Menschen. Ähnlich, wie man es aus der eigenen Kindheit kennt. Gebete, die mir Raum geben, um klagen zu können und meinen Ängsten Luft zu machen. Und in denen ich doch nicht mit mir selbst allein bleibe, sondern Gott als Partner meiner „intimsten Selbstgespräche“ (Viktor Frankl) erfahren kann.

4. Psalmen können helfen, dem Dunklen nicht das letzte Wort zu lassen.

Eine gängige Antwort auf die Frage „Wie geht’s?“ lautet: „Ich kann nicht klagen.“ Ein früherer Kollege hat darauf immer geantwortet: „Da hilft nur üben, üben, üben.“ Es ist wichtig, klagen zu können, und gut, wenn man es nicht muss. Klagen im Sinne der Psalmen meint dabei etwas anderes als bloßes Jammern. Jammern bezeichnet eine wehleidige, larmoyante, selbstfixierte Haltung. Beim Klagen geht es um die aktive Auseinandersetzung mit dem, was das eigene Leben belastet. Gerade die Klagepsalmen leiten dazu an, dem Dunklen eben nicht das letzte Wort zu lassen, sondern Angst, Leid, Schmerz vor Gott zu bringen – und sei es in Form der Anklage und des Vorwurfs. Die Verfasser waren dabei – ähnlich wie Hiob in seiner Klage gegen Gott – religiös sehr direkt und hemmungslos. Das drückt sich etwa aus in der Frage „Warum?“ wie darin, dass Gott selbst für das erfahrene Leid verantwortlich gemacht wird. Etwa in Psalm 44, in dem der Betende im Namen des Volkes Israel Gott scharf angeht: „Wach auf, Herr! Warum schläfst du? Werde wach und verstoße uns nicht für immer!“

Das gilt in anderer Form auch für das Danken und Loben. Auch dies gilt es zu üben. Es ist gut, wenn wir gemeinsam einen Grund zum Danken und Loben haben, und es ist wichtig, wenn wir es dann auch können. Sei es für die Schönheit der Schöpfung, wie sie etwa in Psalm 104 auf poetisch-hymnische Weise besungen wird („Licht ist dein Kleid, das du anhast“). Sei es für die Rettung des Volkes Israel aus kollektiver Not, wie sie etwa in Psalm 105 im Rückblick auf den Exodus aus Ägypten geschildert wird, den gemeinsamen Auszug aus der Unfreiheit. Beides gehört zum Leben: das Klagen wie das Loben, in Gemeinschaft wie als Einzelner. Für beides bieten die Psalmen große Hilfestellung.

5. Psalmen schaffen Ruhe im Kopf und vertiefen das Nachdenken über sich selbst.

Gerade in Zeiten von Krise und Einsamkeit werden Menschen auf sich selbst zurückgeworfen. Im Kopf fängt es an zu kreiseln. Man denkt über sich selbst und das Leben nach – und über das, was einen in einer Welt trägt, in der irgendwie alles auf einmal anders ist. Die Psalmen können helfen, zu einer Kopfruhe zu finden und den Gedanken eine andere Richtung und Tiefe zu geben. So etwa in Psalm 8 mit seiner Frage: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“. Oder in Psalm 3, einem „Morgenlied in böser Zeit“, das davon handelt, wie David mitten in der Zeit seiner Verfolgung Ruhe in Gott findet: „Ich liege und schlafe und erwache, denn der Herr hält mich.“ Oder – als jemand, der gern alpin wandert, einer meiner Lieblingspsalmen – Psalm 121: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht.“ Zu den schönen Feinheiten und der tiefen Weisheit dieses Gebets gehört es, dass Gottes schützende Hand dafür sorgt, „dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts.“ Vielleicht ist der „Mondstich“ bei Nacht eine der Gefahren gerade in der Corona-Zeit, wenn der eigene Kopf eben nicht zur Ruhe kommt und die Gedanken immer weiter kreisen. Auch davor möge Gott uns behüten.

Das Buch der Psalmen ist voller weiterer, faszinierender Gedichte und Gebete, die wir als Christinnen und Christen dem Volk Israel verdanken. Viel mehr noch, als diese kleine Blütenlese zeigen konnte. Manches bleibt mir auch fremd, da blättere ich einfach weiter. Vielleicht kann es anderen Menschen in anderen Zeiten helfen, zur Ruhe zu kommen, den Blick zu weiten, mit dem Leben in seiner Widersprüchlichkeit klarzukommen, dem Dunklen nicht das letzte Wort zu lassen – und so trotz aller Zweifel einfach zu beten. Das wünsche ich Ihnen in den kommenden Wochen.

„In Einsamkeit mein Sprachgesell.“

Queres aus der Quarantäne 4, von Dr. Thorsten Latzel

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