Liebe & Gott – Warum man das eine ohne das andere nicht verstehen kann

3.9.2023

Thorsten Latzel

All we need is love Love. Ich sitze in der U-Bahn. Mir gegenüber eine Frau. Auf ihrer Tasche steht in großen, schimmernden Lettern: Love. In meinem Kopf beginnt es zu ...

Love. Ich sitze in der U-Bahn. Mir gegenüber eine Frau. Auf ihrer Tasche steht in großen, schimmernden Lettern: Love. In meinem Kopf beginnt es zu denken: Hat sie Liebe eingekauft? „Bitte einmal 500 Gramm Liebe.“ „Darf es auch ein bisschen mehr sein?“ Liebe als eine Art Bioprodukt. Vegan, vermute ich.

Vielleicht ist sie auch eine Botschafterin der Liebe: „Wer auch immer du bist, der du mir auf der Straße begegnest oder in der U-Bahn gegenübersitzt: Ich will dir nichts Böses. Love. Peace.“ Auf jeden Fall vertrauenserweckender, als wenn da „Hate“ stände. Ein kollektiver Appell: Lasst uns alle mehr lieben.

Oder ist es Ausdruck eines tiefen Wunsches, einer Suche? „Entschuldigen, wissen Sie, wo es hier Liebe gibt? Ich suche Liebe.“ So wie der antike Philosoph Diogenes, der am helllichten Tage mit einer Lampe über den Markt von Athen lief, um Menschen zu suchen. Very sophisticated.

Es kommt mir etwas seltsam vor, sie einfach darauf anzusprechen. Am nächsten Halt steige ich aus. „Love-Botschaften“: Sie verfolgen mich an dem Tag weiter. Überall. An einem Stand mit T-Shirts: „I love Berlin.“ Eine Plakatwand mit Werbung für Autos, Unterwäsche, Reisen. Alles voll mit Liebe. „All you need is love“, schallt es aus einer Boom-Box. Liebesschlösser auf der Brücke am Stadtkanal. Bis hinein in das Café. Der Spruch an meinem Teebeutel fordert mich auf: „Liebe die Welt und sie liebt dich zurück.“ Ich bin ge-love-brainwashed.

„Liebe“ gehört wohl zu den am häufigsten gebrauchten und missbrauchten Worten. Genau wie „Gott“. Beides hängt wohl miteinander zusammen. Vielleicht sollte man sie gemeinsam unter Quarantäne stellen. „Du sollst den Namen Gottes und den der Liebe nicht missbrauchen.“ Weil sich das eine nicht ohne das andere begreifen lässt.

In 1. Joh 4,7-12 steht:

7 Ihr Lieben, lasst uns einander liebhaben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist aus Gott geboren und kennt Gott.

8 Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist Liebe.

9 Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen.

10 Darin besteht die Liebe: Nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden.

11 Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben.

12 Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen. 

In den sechs Versen kommt das Wort Liebe nicht weniger als 15-mal vor. Von Gott ist zwölfmal die Rede. Beim Zuhören schwirrt es regelrecht, für mich fast ein bisschen viel: Die Liebe ist von Gott, wer liebt, ist aus Gott, wir sind von Gott geliebt und sollen als die Lieben selbst einander lieben. Man spürt richtig: Hier versucht ein Mensch zu zeigen, wie beides unlöslich zusammengehört. Bis hin zu der Spitzenaussage: „Gott ist Liebe“. Nur an dieser einen einzigen Stelle in der ganzen Bibel wird Gott definiert, sein tiefstes, inneres Wesen bestimmt. Und nichts anderes ist dafür geeignet als Liebe. Oder mit Luther formuliert: „Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da reichet von der Erde bis an den Himmel.“

Liebe braucht Gott.

Vielleicht kennen Sie das auch: Ich würde meine Mitmenschen, die Welt, mich selbst ja gerne lieben. Doch leider klappt das allzu oft nicht. Irgendwie geht es ständig schief mit der Liebe und uns Menschen. Trotz allen guten Willens. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass wir verschiedene Liebessprachen, love languages, sprechen. Wir verstehen einander oft nicht. Kommen einander zu nah oder bleiben zu distanziert, verpassen das rechte Wort zur rechten Zeit oder hören nicht richtig zu. Und fühlen uns dann selbst missverstanden, ungeliebt. Wir sind eben endlich, allzu endlich. Und unser kleine, verkrampfte Seele tut sich schwer mit der Unendlichkeit der Liebe, ihrer schier unfassbaren Weite, ihrer Gottes-Glut.

Die Autorin Julia Schoch beschreibt das eindrücklich in ihrem ebenso schönen wie lebensweisen Roman „Das Liebespaar des Jahrhunderts.“ Er beginnt mit dem Satz: „Ich verlasse dich.“

„Im Grunde ist es ganz einfach: Ich verlasse dich. Drei Wörter, die jeder Mensch begreift. Es genügen drei Wörter, und alles ist getan. Man muss sie bloß aussprechen. Ich bin erstaunt, dass es so einfach ist. Und noch etwas erstaunt mich: Der Satz ist genauso kurz wie der, den ich am Anfang unserer Geschichte gesagt habe. Am Anfang habe ich zu dir gesagt: Ich liebe dich. Drei Wörter am Anfang, drei Wörter am Ende. Wie es aussieht, lässt sich das Wichtigste im Leben mit sehr wenigen Worten sagen.“ (S. 7)

Eine namenlose Erzählerin blickt zurück auf die lange Zeit ihrer Beziehung, der gemeinsamen Ehe. Sie spricht zu ihrem ebenfalls namenlosen Partner. Und wie ein Cantus firmus durchzieht der Gedanke der Trennung dabei ihre Liebesgeschichte. Etwa, wenn sie eine Skizze für einen autobiografischen Roman notiert: „Sie lernten sich kennen. Sie liebten sich wie verrückt. Sie liebten sich. Ihre Liebe verwandelte sich. Sie blieben aneinander gewöhnt. Sie kannten sich nicht mehr. Und dann?“ (S. 84)

Ihre Liebe ist anfangs symbiotisch. Sie verfassen ein Manifest ihrer Partnerschaft: „Die Liebe ist nicht kompliziert. […] Liebe so, dass deine Liebe historisch wird. Riskiere, dass deine Kontur verwischt und in einem anderen aufgeht. Verschwende dich nicht an eine fade Liebe. Liebe MICH.“ (S. 181)

Kompliziert wird es dann doch – wie immer im Leben und in der Liebe. Beruf, Umzüge, Kinder, Reisen verändern beide und ihre Beziehung zueinander. „Das Küssen wurde zu einem Akt des guten Willens. Zärtlichkeiten passierten höchstens aus Versehen.“ (S. 148)

Eine Art emotionaler Schwindel im wechselseitigen Einverständnis. Doch auch damit, so viel sei verraten, sind die letzten drei Wörter noch nicht gesprochen.

Liebe braucht Gott. Das tiefe Gefühl geliebt zu sein: unbedingt, grenzenlos, allumfassend. Wie die Sonne, die aufgeht über Gut und Böse. „Darin besteht die Liebe: Nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat.“ Das übersteigt alles, was wir vermögen. Auch als Partner oder Eltern. Eine kreative Liebe, aus der alles entspringt. Das All, die Erde, die anderen, meine Freunde und Feinde, ich selbst. Eine versöhnende Liebe, die nicht bei sich bleiben kann, sich hingibt, verliert, bis sie auch im letzten Winkel der Liebesferne angekommen ist. Eine Liebe, die in uns als Geliebte Raum ergreift und uns wunderbar verwandelt. So, glauben wir, hat sich Gott in Christus gezeigt.

Liebe braucht Gott. Und Gott braucht Liebe. Das ist die andere Seite der Medaille.

Auch Religion und Glaube sind zutiefst menschlich. Und wie alles Menschliche werden sie immer wieder missbraucht. Sie neigen zu Rechthaberei. Zu moralischen Vorschriften. Zu manipulativer Macht. Nicht von ungefähr ist die Bibel selbst durchzogen von einer radikalen Kritik an Religion. Und das meint keineswegs nur die ungläubigen anderen.

Zu den fatalsten religiösen Irrtümern überhaut gehört es, wenn man meint, dass der eigene Glaube eine Antwort auf alle Fragen wäre. Nach dem Motto: „Ich kenne Gott und erklär dir jetzt mal die Welt, das Leben, die Liebe und den ganzen übrigen Rest.“ Eine solche Haltung ist nicht Glaube, sondern schlicht religiöse Ideologie. Sprich: Mumpitz.

Dass atheistische Weltanschauungen nicht besser sind, macht es nicht besser. Das Ganze funktioniert zur Not auch ohne Gott. Es geht letztlich um Macht, Deutungsmacht und um Manipulation. Mit dem Höchsten an der Seite klappt das – bei entsprechendem Charisma – natürlich umso besser: Gott, Jesus, Sünde, Hölle, ewiges Leben, das ist so etwas wie der ultimative „Royal Flush“. Dagegen kommt man schlicht nicht an. Phil Collins besingt das treffend im Blick auf US-amerikanische Fernsehprediger. „Yes Jesus he knows me and he knows I’m right. I’ve been talking to Jesus all my life. […] He’s been telling me, everything gonna be alright.“

Gott als die Liebe selbst lässt sich ohne Liebe nicht begreifen. So wie Paulus es sagt: „Die Erkenntnis bläht auf, aber die Liebe baut auf. Wer glaubt, etwas erkannt zu haben, der hat noch nicht erkannt, wie man erkennen soll. Wer aber liebt, der ist von Gott erkannt.“ Pointiert formuliert: Gott ist ein „Tu-Wort“, ein Beziehungsereignis. Ich kann Gott nicht begreifen, ohne in Gott selbst zu leben.

Vielleicht wäre das ja eine Idee: Wir ersetzen einfach in allen religiösen Reden und heiligen Schriften das Wort Gott durch Liebe, genauer: „Die eine, unbedingte Liebe, die uns unsere Feinde lieben lehrt.“ Zugegeben: Klingt ein bisschen sperrig. Könnte aber ganz heilsam sein. Gegen jede Form von Fanatismus. Es würde die Diskussion mit manchem Skeptiker interessanter machen: „Ich glaube nicht an die eine, unbedingte Liebe, die uns unsere Feinde lieben lehrt.“ Und wir müssten unser Verständnis mancher Texte neu bedenken. Etwa unseres Glaubensbekenntnisses, des Apostolikums. Das Wort „Liebe“ kommt in ihm auffälligerweise nicht ein einziges Mal vor, obwohl es doch eigentlich von nichts anderem handelt.

Gott braucht Liebe. Und Liebe braucht Gott.

Wenn ich also das nächste Mal in der U-Bahn eine Taschenaufschrift entdecke, an der Plakatwerbung für Autos, Unterwäsche oder Reisen vorbeigehe oder den Spruch auf meinem Teebeutel-Zettel sehe: Vielleicht ist es gut, dann diese andere, verborgene Sehnsucht wahrzunehmen. Nach einem Gott, der so heilsam anders ist als unsere friedlose Welt und die kleine, verkrampfte Seele in mir.

 


Theologische Impulse (133) von Präses Dr. Thorsten Latzel

Weitere Texte: www.glauben-denken.de

Als Bücher: www.bod.de

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