Am 11. November ist es wieder soweit: Laternenumzüge, Lampions, Liedersingen. In Gemeinden, Kitas und Grundschulen findet das jährliche Martinsfest statt. Die Geschichte von dem Soldaten, der seinen Mantel mit dem Schwert zerteilt, gleichsam seine militärische Ausrüstung zerlegt und einer zivilen Nutzung zuführt, um den Bettler vor dem Erfrieren zu bewahren. Das weckt Erinnerungen an eigene Kindheitstage.
Die „Legende zum Laternenumzug“ gewinnt in diesem Jahr mit dem russischen Angriffskrieg, der gezielten Zerstörung ukrainischer Infrastruktur und der Energieknappheit in Europa noch einmal eine besondere Bedeutung. Kälte ist zum Kriegsmittel geworden. Umso stärker bildet die Geschichte vom heiligen Martin eine Gegenerzählung. Sie handelt von Solidarität und Mitmenschlichkeit, von der Konversion militärischen Denkens, von der kreativen Liebe Gottes in einem Menschen. Die eigentliche Kraft geht dabei nicht von dem Schwert oder dem Mantel aus, sondern von der Erzählung selbst. „Die Feder ist mächtiger als das Schwert“ (Edward Bulwer-Lytton). Martin von Tours hat damals um 334 der Überlieferung nach einen Bettler gewärmt. Doch die Geschichte von seiner Tat hat Millionen von Menschen weltweit durch die Jahrhunderte hindurch gestärkt, ermutigt und zu eigenem Teilen inspiriert. Und Christus selbst nimmt seine Tat persönlich. Im Traum erscheint er Martin, gehüllt in den halben Mantel des Bettlers. „Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. […] Was ihr einem von diesen meinen geringsten Geschwistern getan habt, das habt ihr mir getan“ (Matt 25,36.40).
Was unsere Zeit braucht, sind Menschen, die sich auch heute von der Not anderer berühren lassen: von den Armen in unseren Städten wie von denen, die vor Krieg und Hunger nun zu uns fliehen. Menschen, die sich um Gottes willen, d.h. um der Liebe willen, zu „ver-rückten“ Handlungen verleiten lassen. Die ein Zeichen setzen, indem sie Wohnung, Wohlstand, Wollmantel teilen. Menschen, die Kälte und Armut trotzen, selbst wenn sie sich dabei zum Narren machen. Menschen, die sich von dem Leid anderer berühren und verändern lassen, die glaubhaft leben, dass es eine andere Logik als die der Gewalt gibt.
Damit wird der Krieg in der Ukraine nicht beendet. Es ist weiter notwendig, die unrechtmäßige Gewalt einzudämmen, um überhaupt wieder Raum für Gespräche zu schaffen und eine Basis für Recht zu setzen – und auch, damit solche kriegerischen Aggressionen nicht weiter Schule machen. Woran die Menschen sich später einmal sehr genau erinnern werden, ist, ob wir mit ihnen unseren Mantel geteilt haben. Die von Armut betroffenen Menschen in unseren Städten und Dörfern wie die Menschen, die zu uns fliehen. Ich bin dankbar für die vielen Initiativen, die es dazu in unseren Gemeinden gibt: von der Unterbringung und Begleitung von Geflüchteten über Essenstafeln, Wärmestuben und diakonische Beratungen bis hin zu vielfältigen Spenden- und Hilfsaktionen, für die Menschen in der Ukraine wie auch weltweit. Danke an alle, die sich hier engagieren. Dies sind die Wärmewunder unserer Zeit. Sie werden am Ende die kalte Logik der Gewalt überwinden. An sie wird man sich später erinnern.
Dazu gebe uns Gott seinen guten Geist: dass wir in seiner Kraft gemeinsam neue Geschichten des Teilens leben und einander erzählen – im Vertrauen darauf, dass Jesus Christus selbst darin mitten unter uns gegenwärtig ist.
Von Logik und Wunder des Teilens
Der kleinste gemeinsame Nenner des Glaubens:
dass wir die größten gemeinsamen Teiler sein sollen.
Christus nimmt persönlich, was wir einander tun.
Oder auch nicht tun. „ … das habt ihr mir getan.“
Darin ruht das Geheimnis aller Brot-, Wein- und Wärmewunder:
Teilen wir Leid, wird es kleiner.
Teilen wir Freude, wird sie größer.
Weil Christus selbst im Teilen gegenwärtig ist.
Und Gott behielt alle diese kleinen unscheinbaren Taten der Liebe
und bewahrte sie in seinem Herzen.
Theologische Impulse (124) von Präses Dr. Thorsten Latzel
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